Warum ist Hermes anders als viele Projektmanagement-Methoden?

Mai 2023

Hermes nimmt klar die Sicht des Auftraggebers, typischerweise einer Behörde oder Verwaltung ein…ist Hermes also nur relevant für solche Auftraggeber und kann von andersartigen Auftraggebern und natürlich von allen Auftragnehmern ignoriert werden?

Tatsächlich kann Hermes auf fast jede Form von IT- und auch anderen Projekten angewendet werden. Trotzdem hilft es, die Konsequenzen dieser Ausrichtung auf institutionelle Auftraggeber zu analysieren und genauer zu verstehen.

Die meisten anderen Projektmanagement-Methoden wurden für den Auftragnehmer (Unternehmen, Dienstleister, Betreiber, …) entworfen. Meistens waren es Projektleiter aus grossen und erfolgreichen Unternehmen, die die Methoden geprägt haben, bevor sie dann zum Standard erklärt und an eine neutrale Organisation zur Betreuung übergeben wurden.
Es gibt auch Methoden, die einen sehr ähnlichen Ansatz wie Hermes verfolgen. So wurde in England PRINCE2 als Regierungsstandard entwickelt und in Deutschland ist V-Model XT für Softwareentwicklung durch Bundesbehörden vorgeschrieben.

Konsequenzen für Hermes

Was sind die Konsequenzen der Ausrichtung auf Hermes? Folgende Punkte erscheinen besonders wichtig und sind auch für Auftragnehmer interessant:

  • Die Verantwortung des Auftraggebers (oft eine Behörde) ist sehr klar beschrieben. Es ist den „Erfindern“ von Hermes bewusst, dass eine Behörde zuerst eine Vielzahl von Meinungen konsolidieren muss, bevor überhaupt ein Projekt gestartet werden kann. Die Abstimmung mit übergeordneten Zielen, Strategie und Umsystemen ist zentral für jeden Auftraggeber und sollte Teil des Vorgehens mit oder ohne Hermes sein.
    Dies zu wissen, hat für den Auftragnehmer den Vorteil, dass er sich auf diese Vorarbeiten und auf eine Verantwortung des Auftraggebers für Entscheidungen im laufenden Projekt berufen kann. Natürlich dauert im realen Projekt „alles“ „immer“ viel zu lang. Manchmal können entscheidende Tage oder Wochen gewonnen werden, indem der Auftraggeber an seine Verantwortung erinnert wird.
    Ganz allgemein ist es für den Projekterfolg wichtig, dass Auftraggeber und Auftragnehmer gut zusammenarbeiten…das funktioniert besser, wenn jeder weiss, was sein Beitrag ist.
  • Die Wirtschaftlichkeit wird von Hermes langfristig und gesamtheitlich betrachtet. Dies ist bei jedem Projekt wichtig und sollte inzwischen zum Allgemeinwissen des Projektleiters zählen. Trotzdem ist es erwähnenswert, weil die konsequente Berücksichtigung dazu führt, dass potenzielle Auftragnehmer die Wirtschaftlichkeit auch aus der Sicht des Kunden berücksichtigen und damit hoffentlich mehr Aufträge gewinnen.
  • Jedes Unternehmen ist auch Auftraggeber für eigene Projekte oder Teilprojekte des Kunden. Es zeigt sich, dass die Rolle des Auftraggebers in der Privatwirtschaft nicht immer so klar definiert ist und bei den Prozessbeschreibungen die Rolle als Lieferant im Vordergrund steht. Man kann also ohne viel Aufwand von Hermes lernen und die Methode für eigene Projekte adaptieren.
    Zum Glück ist die Beschaffung gemäss Bundesgesetz für öffentliches Beschaffungswesen für privatrechtliche Auftraggeber oft nicht relevant und ein unkomplizierter Einkauf vereinfacht die Sache ungemein. Umgekehrt ist es wichtig zu verstehen, welche Restriktionen für eine Behörde oder Verwaltung gelten. Sobald eine öffentliche Beschaffung im Projekt vorgesehen ist, müssen wichtige Aufgaben und Entscheidungen in einer zwingenden Reihenfolge erfolgen, was dazu führen kann, dass z. B. Architektur und Spezifikation oder auch Schnittstellen zu einem früheren Zeitpunkt festgelegt werden müssen.

Was ist bei Hermes nicht im Vordergrund? Es dürfte inzwischen klar geworden sein, dass viele Konzepte von Hermes ganz allgemein in Projekten angewendet werden können.  Es gibt auch ein paar Punkte, die von Hermes nicht so klar adressiert werden:

  • Die Umsetzung der Lösung ist für Hermes nur für die interne Leistungserbringung relevant. Für grosse und komplexe Vorhaben dürfte der Anteil externer Leistungen überwiegen. Dies bedeutet, dass die anspruchsvollsten Dienstleistungen und Produkte eingekauft werden und Hermes nicht auf die effiziente Leistungserbringung fokussiert. Bezüglich kosteneffizienter Umsetzung haben sich andere Methoden sicher mehr Gedanken gemacht. Dafür macht Hermes bezüglich Einführung, Schulung, Betrieb und Dokumentation einen sehr sauberen Job.
  • Aus Sicht des Auftraggebers steht auch der Wettbewerb mit der Konkurrenz nicht im Vordergrund. Eine Konsequenz davon ist, dass Hermes mehr Wert auf den Abbau von Risiken legt als auf die Minimierung des Gesamtaufwandes. Design-to-cost oder ähnliche Ansätze sucht man in Hermes vergebens.

Zum Schluss eine Bemerkung zur agilen Softwareentwicklung: Die Integration von agilen Methoden (völlig flexibel bezüglich der konkreten agilen Methode) wurde in der neuesten Version von Hermes nochmals verbessert und ist integraler Bestandteil von Hermes2022. In diesem Punkt folgt Hermes den aktuellen Trends am Markt und unterscheidet nicht von anderen modernen Projektmanagementmethoden.

Fazit

Hermes ist eine umfassende und vielseitige Projektmanagementmethode, welche an verschiedenste Projekte angepasst werden kann. Sie enthält alle Elemente, die zum Kern von professionellem Projektmanagement gehören und relativ wenig „Ballast“. Für Projekte in Behörden und Verwaltungen kann Hermes direkt verwendet werden. Für andere Projekte brauchte es etwas mehr „Tailoring“ oder Hermes kann als Inspiration zur Ergänzung von bereits eingeführten Methoden verwendet werden.

Reto Schreppers